Cana Bilir-Meier

Sie ist eine Geschichtensammlerin und -erzählerin. Akribisch erforscht sie öffentliche Archive, behutsam und respektvoll die privaten Unterlagen ihrer Familie. Ihre Themen: Migration, Rassismus, Antisemitismus, Sexismus. Der Wissendurst von Cana Bilir-Meier ist unersättlich. Und all ihre gewonnenen Erfahrungen und Einsichten will sie teilen. Mit allen. Dazu ist ihr jedes künstlerische Mittel recht: Film, Performance, Audio, Zeichnungen, Texte. Sie strebt den Austausch und die Kommunikation mit möglichst vielen Menschen an. „Jeder Einzelne schreibt Geschichte, die meisten treten aber nicht in die Öffentlichkeit”, sagt die Künstlerin, die 1986 als Enkelin türkischer Einwanderer in München in ein durchaus politisch und kulturell interessiertes und agierendes Elternhaus geboren wurde. Als 33. Atelierstipendiatin lebt und arbeitet sie bis Ende 2020 in Mönchengladbach. Die Menschen der Stadt will sie einbeziehen in ihre künstlerische Arbeit, will sie teilhaben lassen an ihrem unermüdlichen Kennenlernprozess der „Gesellschaft der Vielen”, wie sie es nennt. „Mir stellen sich immer die Fragen: Für wen mache ich das? Für wen sind die Räume, in denen ich meine Arbeiten präsentiere, zugänglich? Wer wird ausgeschlossen – etwa wegen fehlender Barrierefreiheit?”, sagt Cana Bilir-Meier.

„Ses Alma Rehberi“, 2019, Fotocollage

Ihre Kunst ist unmittelbar und unabdingbar mit gesellschaftlichen und politischen Strömungen und Ereignissen verknüpft. Globales ist dabei ebenso bedeutsam wie Lokales. Daher wird sie sich an öffentlichen Orten in der Stadt zu Wort melden. Mit dem Team des Köntges an der Waldhausener Straße gibt es Absprachen, im Museum Abteiberg und im Kino möchte sie die Menschen an ihren Geschichten teilhaben lassen – mit Lesungen, Präsentationen und in Gesprächen. Die Arbeitsweise der Künstlerin lässt sich anschaulich verdeutlichen an dem eindringlichen 16-minütigen schwarz-weißen Super8-Kurzfilm, den  Cana Bilir-Meier im vergangenen Jahr in München drehte. Er trägt den Titel „This Makes Me Want to Predict the Past“ und spielt in dem Olympia-Einkaufszentrum, in dem 2016 ein 18-jähriger Rechtsradikaler neun Jugendliche mit Migrationshintergrund ermordete und viele Menschen schwer verletzte. Die Kamera folgt zwei migrantischen Jugendlichen, die durch die Mall streifen und dabei ihre Träume und Hoffnungen, ihre Ängste und Albträume thematisieren. Fiktion und Realität vermischen sich. Szenen aus dem Kinder- und Jugendtheaterstück „Düşler Ülkesi” (Land der Träume, 1982), in dem LaiendarstellerInnen (auch die Mutter der Künstlerin, die Sozialpädagogin Zühal Bilir-Meier) Alltagsszenen aus dem Leben sogenannter Gastarbeiter*innen nachspielten, werden aufgegriffen. Es ging um unerfüllte Sehnsüchte, gebrochene Versprechen, Vorurteile und Missverständnisse. Zeit entwickelte sich, die Themen blieben.

„This Makes Me Want to Predict the Past“, 2019,
Intallationsansicht, Kunstverein Hamburg, Foto: Fred Dott

Cana Bilir-Meier lässt die Menschen an ihren Gedanken und Einsichten teilnehmen. Sie kommuniziert zugewandt und eindringlich. Sprich weiter, möchte man sie auffordern. Entdecke weiter, teile deine Geschichten mit uns. Liebe Cana, du hast so viel zu sagen!

Inge Schnettler

KURZBIOGRAFIE

Studium  Kunstpädagogik, Kunst und Digitale Medien an der Akademie für Bildende Künste Wien sowie analogen Film an der Schule für unabhängigen Film Friedl Kubelka und an der Sabanci Universität Istanbul

Ausstellungen und Präsentationen national und international (2020 NS-Dokumentationszentrum München, 2020 Internationale Kurzfilmtage Oberhausen, 2019 Wiener Festwochen, 2019 Kunstverein Hamburg, 2018 Public Art Munich, 2017 Tensta Konsthall Stockholm, 2017 Kunsthalle Wien, 2017 Diagonale – Festival des österreichischen Films)